Trade-off-Messung der Demokratiematrix

Die Merkmalsmessung sowie die Kontextmessung bildet die für eine Demokratie konstitutiven Elemente und relevanten einflussreichen Kontexte im Sinne einer gegenseitigen Unterstützung der Dimensionen ab.

Die Trade-off-Messung hingegen zielt auf die Messung der konfligierenden Wirkung der Dimensionen innerhalb der Demokratiematrix. Hier werden neun Trade-offs identifiziert und vermessen. Diese spannen ein Netz über die einzelnen Felder der Demokratiematrix und mit ihrer Hilfe ist es möglich, Demokratieprofile zu bestimmen. Dabei ist die Entscheidung für ein bestimmtes institutionelles Design nicht mit einer höheren Demokratiequalität verbunden, sondern es handelt sich um normativ gleichwertige und begründbare Präferenzentscheidungen. Der Unterschied liegt in dem Verhältnis der Demokratiequalität zwischen den einzelnen Dimensionen. Dies wird hier ausführlicher beschrieben.



1. Verrechnung der trade-off-Elemente mit der Merkmalsmessung

Bei der Trade-off-Messung werden die einzelnen Trade-off-Elemente mit der Merkmalsmessung kombiniert. Es handelt sich nun nicht mehr um qualitätsmessende Indikatoren sondern um Trade-off-Indikatoren, die nur noch den Bereich der Demokratien abdecken. Die Skala der Trade-off-Elemente liegt dabei zwischen 0.75 und 1. Da sich ein Trade-off-Element auf zwei Dimensionen bezieht, wird es doppelt verrechnet: einmal mit der ersten Bezugsdimension, danach invertiert mit der anderen Bezugsdimension. Durch die Multiplikation beträgt der Einfluss der Trade-off-Elemente maximal 25%. Die damit erzeugten Werte sind nicht im Sinne der Regimeklassifikation zu verstehen, sondern nur für die Ausprägung der Demokratieprofile. Da die Qualität der Demokratie sich durch die Trade-off-Messung nicht ändert, bleiben die Regimeklassifikationen der Merkmals- bzw. Kontextmessung unberührt.


2. Trade-offs zwischen Freiheit und Gleichheit (libertäre vs. egalitäre Demokratie)

Entscheidungsverfahren: Mehrheitsbildung vs. Repräsentation (Freiheit vs. Gleichheit)

Wahlsysteme lassen sich entlang von zwei „Repräsentationsprinzipien“ (Nohlen 2014) anordnen: Die Verhältniswahl erhöht die Chance der Parteien auf eine parlamentarische Repräsentation. Dies führt zu einer Regierungsbildung durch Koalitionen. Hingegen führt die Mehrheitswahl zu klaren Mehrheiten und damit stabilen Regierungen, so dass sich die Präferenzen der Mehrheit besser durchsetzen können. Zudem besitzt der Wähler eine höhere Freiheit bei der Bestimmung der Regierung, weil in Verhältniswahlsysteme die Koalitionsbildung entscheidender ist. Dabei gilt, dass ein Wahlsystem mit zunehmenden Grad der Disproportionalität eher zum Mehrheitswahlpol tendiert und eine einfache und transparente Mehrheitsbildung ermöglicht. Während also disproportionale Wahlsysteme die Freiheitsdimension der Entscheidungsverfahren betonen, erhöhen proportionale Wahlsysteme die Gleichheitsdimension.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2ellovtlg, v2ellovtsm, v2ellostsl sowie v2ellostsm

Angewandte Aggregationsregel: Ghallagher-Index-Formel


Entscheidungsverfahren: Keine Wahlpflicht vs. Wahlpflicht (Freiheit vs. Gleichheit)

Ein zentraler Befund der Wahlforschung ist, dass die Wahlbeteiligung sozial verzerrt ist: Bürger*innen mit einem höheren sozialen Status nehmen häufiger an Wahlen teil als Bürger*innen mit einem geringeren sozialen Status. Dies ist insofern problematisch, da es zu einer Benachteiligung bei der Interessenberücksichtigung der unteren sozialen Strata führen kann. Eine Lösung bietet die Wahlpflicht, da sie den sozialen Selektionsmechanismus durch einen Anstieg der Wahlbeteiligung hemmt (Lijphart 1997). Zwar stärkt dies die Gleichheitsdimension, jedoch würde die Freiheitsdimension verletzt werden, da die Wahlpflicht den Bürger*innen das Recht nimmt, sich der Wahl zu enthalten. Es wird hier nicht dafür plädiert, Wahlpflicht als undemokratisch anzusehen und den Wertekonflikt zwischen Freiheit und Gleichheit zugunsten der Freiheit aufzulösen, sondern als ein trade-off innerhalb der Entscheidungsverfahren und somit als eine normative Positionierung einer Gesellschaft.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2elcomvot

Angewandte Aggregationsregel: Dichotomisierung


Entscheidungsverfahren: Keine Genderquote vs. Genderquote (Freiheit vs. Gleichheit)

Die Diskussion über die Einführung von Frauenquoten lässt sich anhand zweier Gleichheitskonzeptionen beschreiben. Diese sind sich zwar darin einig, dass die Frauenrepräsentation gesteigert werden muss, jedoch sehen sie unterschiedliche Mittel als Lösung an: die liberale Gleichheitskonzeption auf der einen Seite, die auf „‘equal opportunity‘ or ‚competitive equality“ (Dahlerup 2005: 144) setzt und daher die Beseitigung formaler Hürden als ausreichend ansieht und die niedrige Repräsentation von Frauen in der Ressourcenausstattung der Frau selbst sieht (z.B. Bildung), und auf der anderen Seite die substanzielle Gleichheit als „notion of ‚equality of result‘“ (Dahlerup 2005: 144), für die eine Beseitigung formaler Hürden nicht ausreichend ist und daher zusätzlich eine Quote für Frauen fordert, um Diskriminierung und soziale Barrieren zu überwinden.

Beide Konzepte lassen sich auf der Gleichheitsdimension der Entscheidungsverfahren verorten. Allerdings erfordert die substanzielle Gleichheit zu ihrer Realisierung, dass die Freiheitsdimension durch die Einführung der Genderquote eingeschränkt wird, um „those, who control the recruitment process, first and foremost the political parties“ (Dahlerup 2005: 141) stärker zu regulieren.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2lgqugen

Angewandte Aggregationsregel: Dichotomisierung


Intermediäre Vermittlung: Liberale Parteienfinanzierung vs. Egalitäre Parteien­finanzierung (Freiheit vs. Gleichheit)

Ein normativer Konflikt lässt sich auch in der Gestaltungsweise der Parteienfinanzierung (Ohman 2014: 16) ausmachen: Wie sollen Parteien und Wahlkampagnen organisiert werden? Dabei können zwei idealtypische Finanzierungsmodelle unterschieden werden. Während das egalitäre Modell die Chancengleichheit zwischen Kandidaten und/oder Parteien insbesondere durch öffentliche Finanzierung hervorhebt, zeichnet sich das libertäre Modell durch ein „lack of restrictions on expenditure and contributions, market principles of access to the media [und] no public funding” (Smilov 2008: 3) aus, so dass das Spenden von Geld zur Finanzierung von Parteien/Kandidaten als freie Meinungsäußerung begriffen wird. Deshalb stärkt das libertäre Finanzierungsmodell die Freiheitsdimension innerhalb der Institution der intermediäre Vermittlung, während das egalitäre Finanzierungsmodell die Gleichheitsdimension in den Mittelpunkt rückt.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2elpubfin

Angewandte Aggregationsregel: KVF


Kommunikation/Öffentlichkeit: Liberaler Zugang zu den Medien vs. Egalitärer Zugang zu den Medien (Freiheit vs. Gleichheit)

Dieser trade-off basiert auf den gleichen Überlegungen wie bei der Parteienfinanzierung. Ein liberaler Medienzugang ist gekennzeichnet dadurch, dass „it only provides for market access to the media“ (Smilov 2008: 9, Herv. i. Orig.), während das egalitäre Modell auf kostenlose Sendezeiten und Einschränkungen beim Kaufen von zusätzlicher Sendezeit setzt. Aufgrund des Bezugs auf die Medien wird dieser trade-off in der Institution der Kommunikation und Öffentlichkeit angesetzt.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2elpaidig, v2elpdcamp, v2elfrcamp

Angewandte Aggregationsregel: gewichteter Mittelwert, KVF


3. Trade-offs zwischen Freiheit und Kontrolle (Mehrheits- vs. Konsensusdemokratie)

Entscheidungsverfahren - Regelsetzung und -anwendung: Direkte Demokratie vs. Effektive Regierung (Kontrolle vs. Freiheit)

Direkte Demokratie wird nicht als eine spezifische Regierungsform aufgefasst, sondern als eine Ergänzung zu repräsentativen Staatskörpern wie Parlamenten gesehen, so dass die Bürger*innen punktuell und unter bestimmten Bedingungen politische Sachfragen selbst entscheiden können. Zwar können verschiedene direktdemokratische Mittel differenziert werden, die den Bürger*innen unterschiedlich starke Einflussmöglichkeiten in der Politik geben, jedoch wird hier nur das direktdemokratische Instrument der Volksinitiativen betrachtet, das den Bürgern erlaubt, „von unten“ Gesetzesvorschläge einzubringen und darüber abzustimmen. Denn dies stellt die stärkste Beteiligungschance für die Bürger*innen dar. Dabei geht nicht nur dieser direkte Effekt von Volksinitiativen aus, sondern auch eine indirekte Wirkung, da „the threat of the referendum hovers, like the sword of Damocles, over the entire legislative process“ (Kriesi 2012: 42). Damit steigert direkte Demokratie die Kontroll­dimension der Entscheidungsverfahren, während sie institutionenübergreifend die Freiheitsdimension im Feld Regelsetzung und –anwendung durch Einschränkung der Entscheidungsfreiheit der Regierung verringert.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2xdd_cic

Angewandte Aggregationsregel: von V-Dem erstellter Index „Citizen-initiated component of direct popular vote index“


Rechtsgarantie - Regelsetzung und –anwendung: Verfassungsgerichtsbarkeit vs. Effektive Regierung (Freiheit vs. Kontrolle)

Im Gegensatz zum Konzept einer Mehrheitsdemokratie zeichnet sich die konstitutionelle Demokratie durch Gewaltenteilung mit einem starken Verfassungsgericht aus (Munck 2012), um insbesondere Machtmissbrauch zu verhindern und insgesamt Minderheiten zu schützen. Dennoch verweisen Kritiker einer konstitutio­nellen Demokratie darauf, dass Demokratie eigene interne Strukturen der Machtbeschränkung aufweist und daher auf eine zusätzliche Kontrollinstitution verzichten kann. Zudem wird auf die Illegitimität der Richterentscheidungen gegenüber Parlamentsentscheidungen verwiesen (Waldron 2006).  Anstatt das Konzept einer konstitutionellen Demokratie als undemokratisch zu sehen, lassen sich vielmehr diese gegensätzlichen Modelle als ein trade-off beschreiben: ein Verfassungsgericht erhöht die Werte für die Kontrolldimension der Rechtsgarantie und verringert institutionenübergreifend die Freiheitswerte für die Institution der Regelsetzung- und –anwendung.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2jureview

Angewandte Aggregationsregel: KVF


Regelsetzung und –anwendung: Unikameralismus vs. Bikameralismus (Freiheit vs. Kontrolle)

Auf der Ebene der Institution der Regelsetzung und -anwendung kann eine zusätzliche Gewaltenteilung innerhalb der Legislative durch die Etablierung eines Zweikammersystems erfolgen: Während das “pure majoritarian model calls for the concentration of legislative power in a single chamber; the pure consensus model is characterized by a bicameral legislature in which power is divided equally between two differently constituted chambers” (Lijphart 2012: 187).

Dabei lassen sich politische Systeme entlang einer Achse zwischen Unikameralimus und starker Bikameralismus unterscheiden. Durch eine starke zweite Kammer wird ein weiterer Vetospieler etabliert, der zu einer Machtbeschränkung der Mehrheit führt und dafür sorgt, dass auch Interessen von Minderheiten Berücksichtigung finden. Dahinter verbergen sich normative Vorstellungen, wie das Regierungssystem funktionieren soll. Deshalb betonen unikamerale Systeme die Freiheitsdimension in der Institution der Regelsetzung und –anwendung, während bikamerale Systeme die Kontrolldimension stärken.

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2lgdomchm

Angewandte Aggregationsregel:   KVF


Regelsetzung und -anwendung: Einparteienkabinette vs. Koalitionen/Divided Government (Freiheit vs. Kontrolle)

Einparteienkabinette steigern zwar auf der einen Seite die Freiheitswerte einer Regierung innerhalb der Institution der Regelsetzung und -anwendung, reduzieren jedoch die Kontrollwerte, da der Koalitionspartner als ein zusätzlicher Vetospieler im Sinne der Vetospielertheorie (Tsebelis 2002) anzusehen ist. Dies zeigt sich auch bei übergroßen Koalitionen (oversized coalition). Ein besonders starker Vetospieler entsteht durch das divided government – also das Vorhandensein von verschiedenen Parteien innerhalb der Exekutive (semi-präsidentielle Systeme) oder zwischen Exekutive und Legislative. Insgesamt gilt, dass "the difference between one-party majority governments and broad multiparty coalitions epitomizes the contrast between the majoritarian principle of concentrating power in the hands of the majority and the consensus principle of broad power sharing” (Lijphart 2012: 79).

Verwendete V-Dem-Indikatoren: v2elncbpr, v2psnatpar

Angewandte Aggregationsregel:  gewichteter Mittelwert


4. Literaturverzeichnis

Dahlerup, Drude. 2005. Increasing Women’s Political Representation: New Trends in Gender Quotas. In: Ballington, Julie und Azza Karam [Hrsg.]: Women in Parliament: Beyond Numbers. IDEA. Stockholm, S. 141-153.

Kriesi, Hanspeter. 2012. Direct democracy: the Swiss experience. In: Geissel, Brigitte and Kenneth Newton [Hrsg.]: Evaluating Democratic Innovations. Curing the democratic malaise? London/New York, S. 39-55.

Lijphart, Arend. 1997. Unequal Participation: Democracy's Unresolved Dilemma. In: The American Political Science Review 91, S. 1-14.

Lijphart, Arend. 2012. Patterns of democracy. Government forms and performance in thirty-six countries (2. Aufl.). New Haven, CT and London.

Munck, Gerardo L. 2012. Conceptualizing the Quality of Democracy: The Framing of a New Agenda for Comparative Politics. DISC Working Paper Series 23.

Nohlen, Dieter. 2014. Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme. 7. Aufl. Opladen/Toronto.

Ohman, Magnus. 2014. Getting the Political Finance System Right. In: Falguera, Elin, Samuel Jones und Magnus Ohman [Hrsg.]: Funding of Political Parties and Election Campaigns - A Handbook on Political Finance. IDEA. Stockholm, S. 13-34.

Smilov, Daniel. 2008. Dilemmas for a Democratic Society: Comparative Regulation of Money and Politics. DISC Wokring Paper Series 2008/4.

Tsebelis, George. 2002. Veto Players. How Political Institutions Work. Princeton.

Waldron, Jeremy. 2006. The core of an easy case against judicial review. In: The Yale Law Journal 115, S. 1346-1406.