Demokratiedefinition der Demokratiematrix


1. Die Demokratiedefinition der Demokratiematrix

Es besteht in Politik, Wissenschaft und Gesellschaft keine Einigkeit darüber, was Demokratie im Detail bedeutet. Wo beginnt Demokratie und wo endet sie? Deshalb sind in den Diskursen, die sich über die Jahrtausende von Aristoteles bis heute mit der Thematik beschäftigt haben, verschiedene Definitionen und Verständnisse zum Begriff der Demokratie vorzufinden. Diese können sich ähneln, teilweise aber auch widersprechen.

Demokratietheoretisch haben sich jedoch drei Reichweiten innerhalb dieser Konzeptionen herauskristallisiert, die sich auf einen unterschiedlichen begrifflichen Umfang beziehen (Bühlmann et al. 2012): Minimaldefinitionen, Definitionen mittleren Umfangs sowie Maximaldefinitionen.

Minimaldefinitionen

Zwar herrscht über die Minimaldefinition, welche Demokratie über die repetitive Abhaltung von Wahlen mit einem Mindestmaß an Wettbewerb zwischen Kandidaten und partizipativer Inklusion weiter Bevölkerungsteile definiert (Dahl 1971), überwiegend Konsens, jedoch wird darauf hingewiesen, dass diese wesentlich zu kurz greift (Lauth 2004; Munck 2012). Es gelingt ihr aufgrund des Rückgriffs auf das Konzept der elektoralen Demokratie weitestgehend, die zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen autokratischen und demokratischen Systemen zu benennen. Dagegen verfehlt sie die differenzierte Erfassung der Unterschiede innerhalb der Grauzone zwischen Autokratien und Demokratien sowie innerhalb von etablierten Demokratien, bei denen nicht so sehr die Ausprägung des Merkmals „Wahlen“ differiert als vielmehr die Güte des Rechtstaats, des Mediensystems, der Gewaltenteilung oder der intermediären Vermittlung.

Maximaldefinitionen

Auch Maximaldefinitionen wie die soziale Demokratie, die als Orientierung beim Ansatz von O’Donnell et al. (2004) dient, haben sich nicht als sinnvoll erwiesen, da sie durch den Einbezug von sozio-ökonomischen Faktoren und des Wohlfahrtsstaates das Konzept der Demokratie im Sinne eines „conceptual stretching“ (Sartori 1970; Collier/Mahon 1993) überdehnen. Wenn sich dieses Demokratieverständnis auf die Output-Seite bezieht, wird es auch als materielle Demokratiekonzeption bezeichnet. Diese Vorstellung ist jedoch nicht überzeugend, da es eine bestimmte policy-Leistung als Norm setzt, die aber nicht vom Souverän selbst so festgelegt wurde. Deshalb lässt sich Demokratie nicht materiell über die Herstellung von bestimmten policy-Leistungen definieren, sondern Demokratie ist der prozedurale Rahmen, innerhalb dessen erst verschiedene policy-Lösungen ausgehandelt werden (Lauth 2004; Munck 2012).

Definitionen mittleren Umfangs

Vielversprechender sind daher Definitionen mittleren Umfangs, die das minimale Demokratiekonzept nur insoweit anreichern, wie es für eine differenzierte Analyse von Demokratien nötig ist, und die dabei allerdings innerhalb eines engeren und prozeduralen Demokratieverständnisses verbleiben. Genau dieses Demokratieverständnis unterliegt als Maßstab der Demokratiematrix. Durch die Auswertung der demokratietheoretischen Debatte kann eine Demokratiekonzeption gewonnen werden, die zum einen auf den Dimensionen der politischen Freiheit, politischen Gleichheit und politischen und rechtlichen Kontrolle basiert und die zum anderen fünf wesentliche, zu den Dimensionen querliegende Institutionen (Entscheidungsverfahren, Intermediäre Vermittlung, Kommunikation bzw. Öffentlichkeit, Rechtsgarantie sowie Regelsetzung und -anwendung) unterscheidet.

Die Demokratiematrix definiert Demokratie somit als „eine rechtsstaatliche Herrschaftsform, die eine Selbstbestimmung für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Sinne der Volkssouveränität ermöglicht, indem sie die maßgebliche Beteiligung von jenen an der Besetzung der politischen Entscheidungspositionen (und/oder an der Entscheidung selbst) in freien, kompetitiven und fairen Verfahren (z.B. Wahlen) und die Chancen einer kontinuierlichen Einflussnahme auf den politischen Prozess sichert und generell eine Kontrolle der politischen Herrschaft garantiert. Demokratische Partizipation an der politischen Herrschaft findet damit ihren Ausdruck in den Dimensionen der politischen Freiheit, der politischen Gleichheit und der politischen und rechtlichen Kontrolle“ (Lauth 2004: 100).


2. Die drei Dimensionen der Demokratiematrix

Politische Freiheit als freie Selbstregierung der BürgerInnen

Die Dimension der Freiheit ist in der freien Selbstregierung der BürgerInnen in einem politischen Gemeinwesen verankert. Die Selbstregierung beinhaltet den Transfer von individuellen Präferenzen durch die Auswahl von politischen Entscheidungsträgern in freien und fairen Wahlen und darüber hinaus die Möglichkeit einer kontinuierlichen politischen Partizipation, welche im Rahmen der Öffentlichkeit durch konkurrierende intermediäre Organisationen strukturiert wird. Die politische Partizipation der BürgerInnen wird garantiert durch die Existenz von bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten. Darüber hinaus impliziert die Volkssouveränität, dass die gewählten Repräsentanten auch tatsächlich Inhaber der politischen Macht sind und diese so nutzen, dass individuelle Rechte respektiert werden.

Politische Gleichheit als rechtliche Gleichbehandlung und faire Mitwirkung an politischen Entscheidungen

Die Dimension der Gleichheit wird verstanden als politische Gleichheit, die auf der einen Seite eine faire formale Gleichbehandlung der BürgerInnen durch den Staat (legaler Egalitarismus) einschließt und auf der anderen Seite allen BürgerInnen die Chance auf eine faire und effektive Mitwirkung an den demokratierelevanten formalen Institutionen ermöglicht (Input-Egalitarismus). Während in der Dimension der Freiheit die Möglichkeit der freien Teilnahme im politischen System im aktiven Sinne behandelt wurde, geht es in der Dimension der Gleichheit um den gleichen Zugriff auf diese Rechte. Haben alle BürgerInnen die Möglichkeit, in fairer und effektiver Weise von ihren politischen und bürgerlichen Rechten Gebrauch zu machen? Die Rede ist somit von der Gleichheit im Sinne der Gleichbehandlung als passive Komponente.

Politische und rechtliche Kontrolle als vertikale und horizontale Accountability

Während in der Dimension der Freiheit die Präferenzen der einzelnen BürgerInnen und der organisierten Interessen zum Ausdruck gebracht werden, so sind in der Dimension der politischen und rechtlichen Kontrolle die Handlungen dieser Akteure nun an der Überprüfung der Regierungstätigkeit ausgerichtet. Die Kontrolle betrifft jeweils die Regierung und die gewählten Mandatsträger. In der Bestimmung der Kontrolldimension sind die vertikale und die horizontale Accountability einzubeziehen. Die Kontrolle erfolgt durch die politische Partizipation der Bürger oder intermediärer Organisationen in der politischen und zivilgesellschaftlichen Sphäre oder mittels Medien, die Rechtsstaatsverletzungen in der Öffentlichkeit enthüllen und gegebenenfalls juristische Maßnahmen einleiten. Vor allem vollzieht sie sich durch die offiziellen Kontrollorgane innerhalb des Netzes staatlicher und parastaatlicher Institutionen. Alleiniger Maßstab der rechtlichen Kontrolle bildet die Rechtsstaatlichkeit staatlichen Handelns.


3. Die fünf Institutionen der Demokratiematrix

Entscheidungsverfahren: Qualität von Wahlen

Die Beteiligung der Staatsbürger*innen an bindenden Entscheidungen findet in der Demokratie maßgeblich durch die Wahl von Repräsentanten statt. Mit Ausnahme der Gesetzesinitiative, die eine Form der direkten Demokratie darstellt und die wir innerhalb der Trade-off-Messung berücksichtigen, wird mit der Wahl selbst jedoch kaum Kontrolle ausgeübt, vielmehr unterliegt diese ihrerseits der Kontrolle durch regierungsunabhängige Akteure und Organe. In Demokratien erfolgt die Charakterisierung der Wahl notwendigerweise, wie die Diskussion ihrer Dimensionen zeigt, anhand folgender Wahlgrundsätze, die für die regelmäßig, in nicht allzu großem Turnus stattfindenden Wahlen gelten: Demokratische Wahlen müssen demnach allgemein, gleich, frei und geheim sein.

Intermediäre Vermittlung: Qualität von Parteien, Interessenorganisationen und Zivilgesellschaft

Intermediären Organisationen wie Parteien, Verbände und Zivilgesellschaft sollen in der Weise strukturiert werden, dass diese in der Lage sind, gesellschaftliche Interessen zu artikulieren, zu selektieren und zu bündeln, um sie im politischen System an staatliche Entscheidungsinstanzen zu vermitteln und zugleich eine Rückkoppelung zu ermöglichen. Dabei geht es darum, dass die Präferenzen der Staatsbürger*innen möglichst inklusiv vertreten werden können. Die alleinige Bindung der policy-Gestaltung an den Wahlakt ist für einen demokratischen Prozess nicht ausreichend. Denn darüber hinaus muss es eine während der Legislaturperiode andauernde Auseinandersetzung über Politikentscheidungen durch die Einflussnahme organisierte Interessen geben. Ein demokratisches intermediäres Vermittlungssystem muss eine ausreichende Offenheit besitzen, damit nicht bestimmte Interessen systematisch ausgefiltert werden, sondern eine Chance erhalten, sichtbar gemacht zu werden. Schließlich ist die Kontrollfunktion zu nennen, die organisierte Interessen gegenüber der Regierung wahrnehmen.

Kommunikation und Öffentlichkeit: Qualität der Medien

Die Institution der Öffentlichkeit ist als das zentrale Forum der Meinungs- und Willensbildung anzusehen. Dabei bedarf die demokratische Kommunikation der Öffentlichkeit und der Transparenz. Die Öffentlichkeit bildet das Medium der Informationsvermittlung für Einflussnahme und Kontrolle und ist hierbei offen für verschiedene formale und informelle Partizipationsformen und Akteure, die beide zusammen die Struktur der Öffentlichkeit prägen. Ihre institutionelle Absicherung erlangt die Struktur der Öffentlichkeit in der Demokratie durch die Garantie der Meinungs- und Informationsfreiheiten. Ein gewisses Maß an Informationsfreiheit im Sinne der Herstellung von Transparenz des Regierungshandelns ist als Voraussetzung für eine erfolgreiche Kontrolle der Regierung zu sehen. Zentrale Untersuchungseinheiten für die Bestimmung der Demokratiequalität sind die Rechte der Medien selbst als auch die Rechte derjenigen, welche die Öffentlichkeit als Forum nutzen wollen.

Rechtsgarantie: Qualität des Rechtsstaats

Die Institution der Rechtsgarantie ist eine reflexive Institution, da mit ihr die Garantie der anderen Institutionen und der ihnen zugrunde liegenden Rechte verbunden ist. Die gängige Art dieser Partizipationsform verläuft über den Gerichtsweg, wobei der einzelne Bürger*in oder ein Zusammenschluss von Bürger*innen (Verein, Verband, Partei etc.) die Rolle des Verfahrensauslösers und Prozessbeteiligten einnehmen. Dies kann eine gezielte und verbindliche Einflussnahme auf politische Entscheidungen oder deren Implementierung ermöglichen. Entweder werden damit bestimmte Handlungen untersagt, bestätigt oder veranlasst. Zentraler Aspekt ist die Wahrung der für den Rechtsstaat relevanten Grundrechte. Es geht hierbei um eine rechtsstaatliche Überprüfung bereits vollzogener oder abgeschlossener Entscheidungen. Die prägende Idee dieser Institution ist die Kontrolle des Regierungshandelns und -entscheidens mittels des rechtsstaatlichen Gerichtsweges durch einzelne Bürger*innen oder Organisationen.

Regelsetzung und -anwendung: Qualität der effektiven Regierungsgewalt und horizontalen accountability

Notwendig ist zugleich der Einbezug der staatlichen Institutionen, die vom Souverän zur Ausübung demokratischer Herrschaft beauftragt werden. Zwei Funktionen sind hier von maßgeblicher Bedeutung. Zum einen müssen die staatlichen Institutionen im Rahmen der effektiven Regierungsgewalt in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen und die demokratisch getroffenen Entscheidungen zu implementieren. Dies schließt insbesondere die Notwendigkeit einer effektiven freien Regierung ein, die unabhängig von nicht-demokratisch legitimierten Vetospielern (z.B. Militär) operieren kann. Denn eine funktionsfähige Demokratie ist stets eine effektive politische Herrschaft. Dies betrifft im weiteren Sinne auch die Staatlichkeit als Aufrechterhaltung des staatlichen Gewaltmonopols sowie der Fähigkeit der Administration, effektiv zu arbeiten. Zum anderen sind alle Kontrollaspekte im Sinne einer horizontalen accountability zu beachten, die im politischen System selbst liegen (z.B. Parlament, Ombudsmann, Rechnungshöfe). Für die Funktionsweise der Demokratie ist es von zentraler Bedeutung, ob diese staatlichen Institutionen auch die Kompetenzen besitzen, die sie benötigen, und ob sie diese Kompetenzen innerhalb des vorgesehenen rechtsstaatlichen Rahmens nutzen und nicht missbrauchen.

Übersicht über die Institutionen der Demokratiematrix

Institution

Funktion

Leitfrage

Entscheidungsverfahren

Entscheidungsfunktion;

Beteiligung der Staatsbürger an bindenden Entscheidungen durch Wahl

Sind Wahlen und Referenden frei, sind sie gleich und unterliegt ihre Durchführung und ihre Beurteilung einer unabhängigen und transparenten Kontrolle?

Intermediäre Vermittlung

Funktion der Interessenaggregation/-artikulation;

Vermittlung an das politische System (Partei →politischer Macht; Verband/Zivilgesellschaft → politischer Einfluss)

Können alle relevanten Interessen organisiert werden und werden alle rechtlich gleichbehandelt? Kontrollieren die organisierten Interessen das Regierungshandeln?

Kommunikation/Öffentlichkeit

Funktion der Verständigung (Kommunikationsrechte);

Öffentlichkeit als Medium der politischen Kommunikation für Einflussnahme und Kontrolle; Voraussetzung für andere Institutionen

Existieren die kommunikativen Freiheitsrechte und haben alle die gleiche Möglichkeit, sie in Anspruch zu nehmen? Wird die Kommunikation von den Medien selbst als auch von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren als Forum der Kontrolle genutzt?

Rechtsgarantie

Funktion der Garantie der rechtsstaatlichen Prinzipien im Sinne einer rechtsstaatlichen Kontrolle über das Regierungshandeln;

garantiert das Funktionieren der anderen Institutionen (reflexive Institution)

Ist der Gerichtsweg für alle offen und für alle gleich? Sind alle dem Gesetz unterworfen, kann Widerspruch eingelegt werden und wird der Missbrauch politischer Macht effektiv geahndet?

Regelsetzung und -anwendung

Funktion der Implementierung demokratischer Entscheidungen (Gewaltmonopol, Administration);

Funktion der Kontrolle im politischen System (horizontale Accountability)

Hat die Regierung die effektive Regierungsgewalt inne? Gibt es ein Gewaltmonopol und eine effektive Administration? Findet eine rechtliche Gleichbehandlung aller durch das Parlament und die Verwaltung statt? Existieren im politischen System selbst Kontrollrechte (Parlament, Rechnungshöfe)?

 


4. Die 15 Matrixfelder der Demokratiematrix

Durch die Kombination der drei Dimensionen mit den fünf Institutionen werden die 15 Matrixfelder der Demokratiematrix erschlossen, die den relevanten Untersuchungsbereich für die Demokratiequalität abstecken. Dabei bilden die die Dimensionen die horizontalen Säulen, während die Institutionen quer zu ihnen liegen. Eine detaillierte Beschreibung der Komponenten und Subkomponenten der einzelnen Matrixfelder ist hier nachzulesen.


5. Literaturverzeichnis

Bühlmann, Marc, Wolfgang Merkel, Lisa Müller, Heiko Giebler und Bernhard Weßels. 2012. Demokratiebarometer: ein neues Instrument zur Messung von Demokratiequalität. In: ZfVP 6, S. 115-159.

Collier, David und James E. Mahon. 1993. Conceptual 'Stretching' Revisited: Adapting Categories in Comparative Analysis. In: American Political Science Review 87, S. 845-855.

Dahl, Robert A. 1971. Polyarchy. Participation and Opposition. New Haven/London.

Lauth, Hans-Joachim. 2004. Demokratie und Demokratiemessung. Wiesbaden.

Lijphart, Arend. 2012. Patterns of democracy. Government forms and performance in thirty-six countries (2. Aufl.). New Haven, CT and London.

Munck, Gerardo L. 2012. Conceptualizing the Quality of Democracy: The Framing of a New Agenda for Comparative Politics. DISC Working Paper Series 23.

Munck, Gerardo I. und Jay Verkuilen. 2002. Conceptualizing and Measuring Democracy. Evaluating Alternative Indices. In: Comparative Political Studies 35, S. 5-34.

O’Donnell, Guillermo, Cullell Jorge Vargas und Osvaldo M., Iazzetta (Hrsg.). 2004. The Quality of Democracy. Notre Dame.

Sartori, Giovanni. 1970. Concept Misformation in Comparative Politics. In: American Political Science Review 6, S. 1033-1053.